Lebendige Karma-Kagyü-Tradition im Bergdorf Bordo

Das Bergdorf Bordo im Antrona-Tal hat eine lange Geschichte. Im Mittelalter im Zusammenhang mit den Gold- und Eisenvorkommen im alpinen Gebiet um den Monte Rosa gegründet, wurde es von seinen Bewohnern in der Mitte des 20. Jahrhunderts verlassen.

Der Schweizer Gerard Frei hatte den Wunsch, die Häuser wieder aufzubauen und zusammen mit anderen jungen Personen aus der Schweiz und Deutschland eine Gemeinschaft mit einer spirituellen Dimension zu gründen. Er ist dem Ort als Präsident der Genossenschaft Bordo noch immer verbunden. Im Jahr 1981 nahm er an der Einäscherungszeremonie des 16. Karmapa in Rumtek teil und fragte zusammen mit Lama Irene Shamar Rinpoche, ob er das Vorhaben unterstützen würde. Die Antwort war sehr positiv und Shamar Rinpoche gab dem neuen Projekt den Namen ‚Karma Dechen Yangtse‘: der Ort des höchsten Glücks.

Piazza Milarepa, 1981

Piazza Milarepa beim Bordofest, 2019

In den folgenden Jahren wurde intensiv am Wiederaufbau des Dorfes gearbeitet. Neue Mitglieder schlossen sich an, Kinder wurden geboren und erzogen, und es entwickelte sich während rund 15 Jahren ein reiches Gemeinschaftsleben. Dank der wichtigen Unterstützung durch Lama Teunsang aus Montchardon besuchten in dieser Zeit viele Rinpoches und Lamas den Ort, halfen beim Bau einer Stupa, führten Rituale durch und gaben Belehrungen.

Besuch von Kalu Rinpoche, 1984

Chime Rinpoche mit Kindern von Bordo bei der neu errichteten Stupa, ca. 1988

Im Jahr 1997 wurde ein Dharma-Verein gegründet. Das Dharma-Leben blühte vor allem in Verbindung mit dem Dhagpo-Mandala – Lehrerenden und besuchenden Lamas, die ihre Ausbildung beim Mahamudra-Meister Gendün Rinpoche gemacht hatten.

In den Jahren 2004 und 2006 fanden die wichtigen Besuche von Trinley Thaye Dorje, dem 17. Karmapa, und von Künzig Shamar Rinpoche statt. In Verbindung mit Shamar Rinpoches Besuch beschlossen die Bordo-Genossenschafter, dass das Dharma-Dorf Mitglied der neu gegründeten Bodhi-Path-Organisation werden sollte. Diese Zugehörigkeit hat bis heute Bestand.

Im Jahr 2020 wurde vom Dharmaverein und der Genossenschaft Bordo die partizipative Stiftung Karma Dechen Yangtse unter dem Vorsitz von Matteo Bottari aus Mailand gegründet. Die Aktivitäten des Dorfes sind so weiterhin in der uns vertrauten Form möglich und die Verbindungen zum Dharma und zur italienischen Buddhistischen Union geben uns den notwendigen juristischen Rückhalt.

Besuch von Trinley Thaye Dorje, dem 17. Karmapa, 2004

Besuch von Künsig Shamar Rinpoche, 2006

Das Bergdorf Bordo mit seinen einfachen, aber bestens angepassten traditionellen Steinstrukturen beeindruckt die Besuchenden immer wieder, die aus einer Lebensweise des Überflusses und des Überkonsums kommen. Vor allem aber waren die Lamas und Rinpoches begeistert, die eine Vergangenheit in Tibet hatten, denn Bordo erinnerte sie an ihre frühen Jahre in einer ähnlichen, wenn auch raueren Umgebung. Das Bemerkenswerteste an Bordo ist aber nicht seine traditionelle Architektur und seine Lage auf einer von Bergwäldern umgeben Anhöhe, sondern seine besonderen Eigenschaften als Ort der Meditation und intensiver buddhistischer Praxis. Wenn man mit dem Bus oder Auto in Rivera ankommt und den Fußweg nach Bordo nimmt, lässt man die weltlichen Beschäftigungen hinter sich und betritt einen Raum, der außerhalb der Zeit zu liegen scheint.

Auf dem Weg nach Bordo

Das macht Bordo zu einem besonders geeigneten Ort für die zentrale Praxis der Karma-Kagyü-Tradition: der Meditation. Alle Meister, die den Ort besucht haben, haben seine besondere Qualität für diese Praxis hervorgehoben, insbesondere der Meditation der geistigen Ruhe (shine/śamatha) und von Lojong – der Geistesschulung.

Die Hauptpraxis der Karma-Kagyü-Tradition wird die Praxis des Mahāmudrā genannt. Gampopa Sönam Rinchen (1079-1153), einer der Begründer der Tradition, erläuterte die verschiedenen Wege, sich dieser meditativen Praxis zu nähern. Jeder von ihnen spricht spezifische Fähigkeiten der Praktizierenden an.

Die erste Annäherung über den Weg der begrifflichen Untersuchung basiert auf den Lehren der Mahāyāna-Sūtras. Durch logisches Überdenken gelangt man zu einem intellektuellen Verständnis. Es ist eine Vipassanā-Praxis, die allen buddhistischen Ansätzen gemeinsam ist. Obwohl der Begriff Mahāyāna Sūtra im Allgemeinen eine viel breitere Bedeutung hat, ist er im vorliegenden Kontext gleichbedeutend mit logischer Argumentation und Sūtra-Lehren. Gampopa nannte ihn „den Weg der Interferenz“. Besonders wichtig bei diesem Ansatz sind ein stabiler Geist, die Förderung einer positiven Einstellung gegenüber anderen und die Arbeit an negativen Emotionen, die mit Ärger, Gier, Anhaftung, Neid und Unwissenheit zusammenhängen.

Der zweite Weg ist der des tantrischen Vajrayāna. Bei diesem Ansatz meditiert man auf ein Mandala und seinen spezifischen Meditations- oder Buddha-Aspekt, rezitiert Mantras und führt yogische Praktiken aus. Gampopa nannte ihn „den Weg des Segens“. Dieser Ansatz, der mit bestimmten Verpflichtungen und Unterweisungen verbunden ist, ist ein mächtiges Mittel zur Reinigung und Transformation.

Der dritte ist „der Weg der direkten Erkenntnis“, die Mahāmudrā-Meditation an sich. Es ist eine Praxis ohne Unterstützung durch Hilfsmittel, die zu einer direkten Erfahrung führt, die weder verbal ausgedrückt noch begrifflich erfasst werden kann. Hier erkennt der Geist spontan seine tiefe angeborene Natur und eine qualifizierte Lehrperson gibt den Praktizierenden die notwendige Unterstützung, um die Erkenntnis zu stabilisieren. Es ist eine sehr tiefgründige Methode, die alle illusorischen Wahrnehmungen erschöpft.

Für Gampopa hatte der erste Ansatz einen besonderen Stellenwert. Er hatte seine Ausbildung als Mönch und Praktizierender in der von Atiśa Dipamkara Srijñana (982-1054) begründeten Kadampa-Tradition begonnen und beschreibt diesen Zugang u.a. in seinem Grundlagenwerk „Der Juwelenschmuck der Befreiung“ (Dhagpo Thargyen). Gampopa betonte diesen Ansatz zweifellos, weil er ihn als für jedermann zugänglich hielt, obwohl er auch mit dem Zugang des Vajrayāna vertraut war, war er doch in späteren Jahren einer der Hauptschüler des großen Yogi Milarepa (1052-1135) und erhielt von ihm die gesamte tantrische Übertragung.

Der tantrische Zugang in unserer Linie zur Mahamudra-Meditation wurde von Milarepas Lehrer, dem großen Übersetzer Marpa (1012-1097), nach Tibet gebracht. Er erhielt die Übertragung in Indien vom gelehrten Mahasiddha Naropa (1016-1100), der seinerseits auf der Tradition von Mahasiddha Tilopa (988-1069) basiert.

Ein direkter Zugang zu Mahamudra, der auf den Mahasiddha Saraha zurückgeht (Daten unsicher), wurde Marpa durch Mahasiddha Maitripa (ca. 1007-1085) übermittelt.

Ausschnitt aus einem Thangka mit der Darstellung des Mahasiddha Saraha

Wie auch immer unser Ansatz ist – tiefer in die buddhistische Meditation einzusteigen ist nicht etwas, das wir alleine tun können. Unser Verstand ist zu stark mit seinen eigenen Projektionen verbunden. Um seine Begrenzungen zu durchbrechen müssen wir von einer qualifizierten Lehrperson angeleitet werden, welche die Essenz des ungehinderten Geistes erkannt hat. Vertrauen und Hingabe sind notwendig, um die Anhaftung an tiefe Muster und Projektionen loslassen zu können.

Mit Gampopas Texten verfügen wir über die ersten schriftlich überlieferten Erklärungen zu den grundlegenden und für alle zugänglichen Ansätzen der Kagyü-Linie. Gampopa hatte viele Schüler, die seinem Weg folgten, und viele von ihnen erreichten eine hohe Stufe der Verwirklichung. Auf ihn und auf einen seiner Hauptschüler, Phagmo Drugpa Dorje Gyalpo (1110-1170), gehen die vier Haupt- und acht Nebenlinien der Kagyü-Tradition zurück. Viele von ihnen wurden bis in die heutige Zeit überliefert und auch in Italien gibt es Lehrende und Zentren, die die jeweilige Tradition weiterführen.

Düsum Khyenpa (1110-1193), ein weiterer großer Schüler von Gampopa, ist der Begründer der Karma-Kagyü-Tradition. Er ist bekannt als der 1. Karmapa und steht am Anfang der ältesten Linie von reinkarnierten Meistern in Tibet. Seine Nachfolger und Linienhalter haben die Karma-Kagyü-Tradition, eine der vier Hauptlinien des tibetischen Buddhismus, zusammen mit anderen spirituellen Traditionen des tibetischen Buddhismus, bis heute in ihrem Reichtum bewahrt. Bordo ist mit dieser Tradition verbunden, ebenso wie die Dhagpo-Zentren in Italien und die Zentren der Diamantweg-Stiftung.

Ausschnitt aus einem Thangka mit der Darstellung von Milarepa, Marpa, Gampopa und in der Mitte Düsum Khyenpa

Die Betonung der Meditation in der Kagyü-Linie bedeutet nicht, dass das Studium vernachlässigt werden soll. Ein korrektes Verständnis der buddhistischen Sicht ist allein durch Meditation nur schwer zu erreichen. Ohne fachkundige Begleitung besteht eine große Gefahr, in eine zu persönliche Interpretation abzugleiten. Der Schwerpunkt liegt auf einer ausgewogenen Verbindung vom Studium der klassischen Texte und Unterweisungen, der Reflexion und Integration ihrer Bedeutung und der Meditation, unterstützt von den entsprechenden Anleitungen. Mit der Zeit können sich engagierte Praktizierende dafür entscheiden, ihr Studium in einer der höheren buddhistischen Akademien unserer Linie zu vertiefen, mit der Aussicht, die Lehren in der Zukunft weiterzugeben. Eine weitere Möglichkeit ist der Besuch eines traditionellen Dreijahres-Retreats, in welchem auch rituelle Aspekte der tantrischen Praktiken vertieft werden.

In Bordo wird keine höhere Philosophie vermittelt, sondern wir arbeiten an den grundlegenden Themen mit dem Wunsch, auch für Menschen offen zu sein, die sich dem Buddhismus annähern oder seine Lehren in ihrem täglichen Leben anwenden und vertiefen möchten. Eine Ausnahme wird gemacht, wenn einer der Rinpoches oder studierten Lamas unserer Linie den Ort besucht und Belehrungen gibt. Die tägliche Praxis besteht aus der Meditation der geistigen Ruhe und Tonglen (Geben und Empfangen). Am Abend führen wir eine Tschenrezig-Puja durch. Dies ist eine für alle offene Vajrayana-Praxis, die uns mit unserem innewohnenden Mitgefühl und liebender Güte verbindet.

Karma Trinley Tulku gibt Belehrungen in der neuen Sala Milarepa, 2018

Von großer Bedeutung, sowohl für Anfänger als auch für fortgeschrittene Praktizierende, ist eine Reflexion über die vier grundlegenden Gedanken, die unseren Geist dem Dharma zuwenden. Sich unserer kostbaren menschlichen Existenz bewusst zu werden vertieft unseren Zugang zur Praxis. Das Verstehen der Vergänglichkeit jeder Erfahrung verbindet uns mit der Unbeständigkeit des Lebens. Zu sehen, dass jede Handlung, jedes Wort und jeder Gedanke eine Auswirkung hat, lässt uns erkennen, dass wir in unserer gegenwärtigen Situation das Ergebnis vergangener Handlungen erleben. Und wenn wir schließlich die unbefriedigende Natur der samsarischen Existenz erkennen, können wir die Entscheidung treffen, die Ausrichtung unseres Lebens zu ändern. Diese Reflexionen und deren Integration in einen ruhigen, aber herausfordernden Alltag ist auch für Anfänger sehr geeignet.

Studium, Reflexion und Meditation statten uns mit den beiden untrennbaren Flügeln der Weisheit und des Mitgefühls aus, um unseren gegenwärtigen, unbefriedigenden Zustand zu überwinden. Die Weisheit bezieht sich auf die Leerheit, auf die Tatsache, dass alle Phänomene frei von jeglicher Eigenständigkeit und substantieller Existenz sind. Dieser oft missverstandene Punkt kann nicht allein durch einen intellektuellen Ansatz erforscht werden. Mitgefühl dagegen ist der Wunsch, dass alle fühlenden Wesen frei von Leiden und den Ursachen des Leidens sein können und ist untrennbar verbunden mit dem Verständnis der wechselseitig abhängigen Existenz und dem Wissen, dass nichts aus und für sich selbst existiert.

Dieses Verständnis zu vertiefen und Einblicke in etwas zu haben, das unsere Alltagserfahrung überschreitet, ist etwas für intensiv Praktizierende. Bordo mit seiner ganz besonderen Atmosphäre erlaubt es uns schon nach kurzer Zeit, gewohnte Tendenzen und das ständige Bedürfnis nach Anerkennung loszulassen. Die Arbeit draußen in der Natur, das einfache, aber wohlschmeckende Essen, die schlichten Wohnräume, die Gesellschaft von Gleichgesinnten, die tägliche, gemeinsame Praxis und ein regelmäßiger Austausch zu wichtigen Themen helfen, gemeinsam an uns zu arbeiten und zu wachsen. Erfahrene Praktizierende vertiefen ihr Verständnis und fördern liebende Güte und Mitgefühl im täglichen Umgang mit anderen. Neuankömmlinge erhalten eine erste Einführung, profitieren von der gemeinsamen Praxis und können sich später an ihrem Wohnort einem Dharma-Zentrum anschließen. Für alle, sowohl für die Praktizierenden, die als Gäste kommen, wie auch für die Freiwilligen, die sich um das Dorf und seine Einrichtungen kümmern, ist die Zeit in Bordo eine reiche und inspirierende Erfahrung.

Teilnehmerinnen und Volontäre nach dem Lojong-Kurs von Lama Irene, 2019

Die Lehren der Karma Kagyü Tradition werden in Bordo ausschließlich von autorisierten Lehrerinnen und Lehrern unterrichtet. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf dem Ansatz des Bodhi Path Curriculums, einem Programm aus Studium, Reflexion und Meditation, das von Shamar Rinpoche entwickelt wurde, um westlichen Schülern einen aktuellen, aber authentischen Einblick in die Lehren der Linie zu ermöglichen. Eine besondere Ausnahme, die uns von Lama Jigme Rinpoche vorgeschlagen wurde, der derzeit die spirituelle Entwicklung des Ortes beaufsichtigt, ist ein Wochenende des Austausches rund um Vesak, zu dem wir Lehrende aus verschiedenen buddhistischen Traditionen einladen, um ihre Herangehensweise an die Meditation des stillen Verweilens auszutauschen.

Wir sind uns bewusst, dass einer der Reichtümer des Buddhismus die vielen verschiedenen Wege sind, sich demselben Ziel zu nähern: die innewohnende Unzufriedenheit in unserer Existenz zu sehen, ihre Ursache zu erkennen, überzeugt zu sein, dass es einen Weg gibt, die Unzufriedenheit zu überwinden, und überzeugt zu sein, dass uns die Lehren Buddhas den Weg zeigen können. Aber der Zugang zu diesem tiefen und herausfordernden Weg ist für jede Tradition spezifisch. Das Mischen von verschiedenen Ansätzen hilft uns nicht, ein tieferes Verständnis zu erlangen. Es liegt letztlich ohnehin außerhalb unseres intellektuellen Fassungsvermögens. Wir müssen die Zerstreuungen loslassen, und dafür müssen wir uns auf das Wesentliche konzentrieren. Hier verfügt jede buddhistische Tradition über einen eigenen spezifischen Ansatz.

Austausch zur Shine Meditation der Karma Kagyu und der Gelug Tradition, 2019

Die Ausrichtung auf die Karma Kagyu Tradition bedeutet nicht, dass Praktizierende anderer buddhistischer Traditionen in Bordo nicht willkommen sind. Allein oder in Gruppen mit ihrer Lehrerin oder ihrem Lehrer können sie die besonderen Qualitäten unseres Retreatbereichs nutzen. Wichtige Informationen zu den Möglichkeiten und Bedingungen eines Aufenthaltes sind auf der Seite zu Einzelretreats angegeben. Dort finden sich auch Informationen über unser Dharma-Programm. Wer mit diesen Informationen vertraut ist kann uns über bodhipath@bordo.org kontaktieren mit den Angaben zur gewünschten Zeit, der geplanten Praxis mit ihrer Tagesstruktur und dem Lama oder der buddhistischen Lehrerin, mit denen das Retreat vorbereitet wird. Wir erwarten eine Spende für den Aufenthalt, welche die Kosten deckt und es ermöglicht, das Dorf zu unterhalten. Dies gilt für die Zeit von Ostern bis zum Herbst. Im Moment ist ein Winterretreat zu gewissen Zeiten nur Praktizierende möglich, die mit Bordo vertraut sind, niedrige Temperaturen gut ertragen und schon wissen, wie alles funktioniert. Wir hoffen, dass diese ausgezeichnete Gelegenheit zur Vertiefung der Praxis in Zukunft vielen offen stehen wird.

Vielen Dank an Audrey Desserrières für ihre Durchsicht und Vorschläge und an Felice Bachmann für wertvolle Informationen zu italienischen Zentren unserer Tradition.